Widerstand gegen die „Hölle von Dora“ – heute erst recht
Am 11. April 1945 wurde das NS-Konzentrationslager Mittelbau Dora in Nordhausen von US-amerikanischen Truppen befreit.
Zum 75. Jahrestag der Befreiung sollte am 7. April 2020 eine Gedenkveranstaltung stattfinden, die wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden musste. Wir dokumentieren die Rede von Wolfgang Huber, die er für diesen Gedenkakt vorbereitet hat:
Anton, Berta, Cäsar – „Dora“: Die deutsche Buchstabiertafel hat dem Konzentrationslager in Nordhausen den Namen gegeben. Der Geist des Schematisierens und Klassifizierens war diesem Ort dadurch aufgeprägt; denn es ging lediglich um den Buchstaben D. Bald kam noch „Mittelbau“ hinzu. Dadurch wurde dieser Ort rasch mit ungefähr vierzig weiteren Lagern im Harz verbunden, in denen Menschen unterschiedlicher Herkunft ihrer Freiheit beraubt wurden. Als Zwangsarbeiter brachten sie deutsche Rüstungsprojekte und andere Vorhaben voran.
Schwerstarbeit in unterirdischen Stollen
Im Lager Dora bedeutete das, Monate bei Tag und Nacht in unterirdischen Stollen zu verbringen. Sie sollten zu Produktionsstätten für die „Wunderwaffen“ ausgebaut werden, mit denen der „Endsieg“ doch noch gelingen sollte. Die Arbeit vollzog sich ohne alle Sicherheitsmaßnahmen, also mit täglicher Lebensgefahr angesichts herabfallender Steinbrocken; der Gesteinsstaub legte sich bei der Arbeit ebenso wie beim Versuch, Ruhe zu finden, auf die Lungen. In der „Hölle von Dora“ kamen die Zwangsarbeiter hungrig und todmüde von ihrer Arbeit. Unterernährt rangen sie unter menschenunwürdigen Bedingungen um Schlaf. Es kam vor, dass sie sich auf den Körper eines Toten legten, um sich nicht auf dem nackten Boden ausstrecken zu müssen. Tiefe Erschöpfung führte in vielen Fällen zu einem raschen, grausamen Tod.
Das Schicksal von 13 Millionen Zwangsarbeitern spiegelt sich im Schicksal der Menschen, die von 1943 bis 1945 im Lager Dora ihr Leben verloren oder um es bangen mussten. Der physischen Gewalt, der sie Tag für Tag ausgesetzt waren, ging eine Gewalt der Gesinnung voraus, die eine beklemmende Mehrheit der Deutschen ergriffen hatte. Sie war keineswegs erst in der Nazizeit entstanden. Sie war vorbereitet durch ein übersteigertes Nationalgefühl, das durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg keineswegs verschwunden war, sondern sich bei vielen in trotziger Enttäuschung über den verlorenen Krieg und einen als ungerecht empfundenen Frieden noch gesteigert hatte. Der Nationalsozialismus machte sich dieses Gefühl zu eigen und verband es mit massivstem Rassismus, insbesondere und von Anfang an in Gestalt des Antisemitismus.
Das Töten beginnt mit Worten und Gedanken
Wer sich heute über die Radikalität wundert, mit der in der Bergpredigt Jesu erklärt wird, dass der Mord mit der Verachtung und Herabsetzung anderer Menschen beginnt, sollte sich an die massenmörderischen Ereignisse von Auschwitz bis Dora erinnern. Denn dieser Massenmord belegt, dass das Töten mit Worten und Gedanken, also mit Gesinnungen beginnt. Wenn Zwangsarbeiter auf LKWs durch Nordhausen gefahren wurden, warfen Kinder, die sie sahen, mit Steinen nach ihnen. Schon sie ließen der Gesinnung, die sie von ihren Eltern lernten, Taten folgen.
Radikalität bedeutet: Dinge an der Wurzel zu fassen. An der Wurzel gefasst, beginnt der Mord mit der Verachtung und Herabsetzung anderer. Der Völkermord beginnt mit der Verachtung und Herabsetzung anderer Völker. Rassismus und Antisemitismus sind Grundformen einer solchen Entwürdigung. Wo immer sie sich – wieder – breitmachen, wird auch möglich, was zwischen Auschwitz und Dora millionenfach geschah. Unser Erinnern ist nicht mehr aus der Sicherheit gespeist, dass sich Vergleichbares nicht wiederholen kann. Dieses Erinnern ist notwendig, weil Vergleichbares nach wie vor möglich ist. Den Opfern sind wir schuldig, dass sie nicht in Vergessenheit geraten. Denen, die den Ungeist der Täter wiederaufleben lassen, müssen Staat und Bürgergesellschaft mit Klarheit entgegentreten.
Lange wiegten wir uns in der Meinung, menschenfeindlichen Hass und kollektive Verachtung hätten wir hinter uns gelassen; in Verantwortung für die Schuld unserer dunkelsten Jahre hätten wir uns zur Unantastbarkeit der Menschenwürde bekannt. Auf dieser Grundlage sei es in Deutschland zu einer Demokratie gekommen, die auf der Anerkennung der gleichen Menschenrechte für alle beruht. Stolz waren wir darauf, dass dieser Geist das seit 1990 vereinigte Deutschland prägt. Heute erkennen wir, dass dies alles andere als ein sicherer Besitz ist. Gewalttaten, die sich aus einer Gesinnung von Hass und Verachtung gegen Fremde ebenso richten wie gegen diejenigen, die sich in politischer Verantwortung schützend vor sie stellen, müssen uns aufrütteln. Das Ausmaß, in dem Antisemitismus wieder um sich greift – und dies nicht nur in Worten, sondern auch in Taten, die auf sie folgen – darf uns keine Ruhe lassen. Die freiheitliche, menschenrechtsorientierte Demokratie dürfen wir nicht länger als einen fraglos Besitz betrachten.
Die bösen Geister der Vergangenheit in neuem Gewand
In seiner Rede im Deutschen Bundestag zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Schleier der Verharmlosung beiseite gezogen. In dieser Rede vom 29. Januar heißt es: „Ich wünschte, ich könnte […] sagen: Wir Deutsche haben verstanden. Doch wie kann ich das sagen, wenn Hass und Hetze sich wieder ausbreiten, wenn das Gift des Nationalismus in Debatten einsickert – auch bei uns? [..] Wir dachten, der alte Ungeist würde mit der Zeit vergehen. Aber nein: Die bösen Geister der Vergangenheit zeigen sich heute in neuem Gewand. Mehr noch: Sie präsentieren ihr völkisches, ihr autoritäres Denken als Vision; gar noch als die bessere Antwort auf die offenen Fragen unserer Zeit.“
Nicht nur die Schrecken, die sich ausbreiten, wenn ein solcher Geist sich in Taten niederschlägt, begegnen uns in der Erinnerung an das Lager Dora. Sondern in dieser Erinnerung tritt uns auch der Geist des Widerstands entgegen, auf den wir heute aufs neue angewiesen sind. Den Überlebenden danken wir deshalb für den Widerstand, den sie geleistet haben. Denn nur ein Geist des Widerstands gab ihnen die Kraft zum Überleben. Unser Gedenken gilt ebenso denen, die im Konzentrationslager starben oder deren Leben nach der Befreiung von den Misshandlungen gezeichnet war und bis zum oft vorzeitigen Tod ein beschädigtes Leben blieb.
Entsprechend weit ist die Spanne der Lebenshaltungen, die uns in den Zeugnissen Überlebender vor Augen treten. Ich denke an Lili Jacob, die nach ihrer Befreiung, völlig entkräftet, in eine ehemalige SS-Unterkunft gebracht wurde, die nun als Krankenstation diente. In dem Nachttisch neben ihrem Bett fand sie ein Fotoalbum, das ein unbekannter SS-Mann aus Auschwitz mit nach Mittelbau-Dora gebracht hatte. Beim Durchblättern fand Lili Jacob Bilder von ihren Großeltern, ihren Eltern und sogar von sich selbst. All ihre Angehörigen waren umgebracht worden; aber nun hatte sie letzte Zeichen von ihnen. Sie wurden ihr zum einzigen Besitz, aus dem sie Mut zum Neubeginn schöpfte.
Folter hinterlässt Spuren an Leib und Seele - lebenslang
An Hans Mayer denke ich, der nach der Befreiung unter dem Schriftstellernamen Jean Améry ein neues Leben begann. Erst 1964 wagte er es, seine Erfahrungen in Auschwitz und Mittelbau literarisch aufzuarbeiten. Die schlimmste Erfahrung war für ihn die Folter, der er unter dem Titel „Tortur“ eine eigene Aufzeichnung widmete. Wer Folterungen überlebt, so machte er deutlich, trägt deren Spuren ein Leben lang an Leib und Seele. Wie Jean Améry aus eigener Erfahrung schilderte, richtet die Folter das Weltvertrauen in einer Weise zu Grunde, für die es keinen Ausgleich geben kann. Seine eigene Existenz blieb ein Leben auf der Grenze. Ausdrücklich leitete er aus der eigenen Lebensgeschichte das Recht dazu ab, sich selbst das Leben zu nehmen. Das teilte er nicht nur in einem Buch öffentlich mit; er machte davon auch Gebrauch und starb von eigener Hand.
Heinz Galinski war, als Jude drangsaliert, schon in Berlin seit 1940 zur Zwangsarbeit genötigt worden; das bewahrte ihn nicht davor, zunächst nach Auschwitz, wo seine Frau und seine Mutter ermordet wurden, deportiert und im Januar 1945 in das Konzentrationslager Mittelbau verschleppt zu werden. Von einem erneuten Todesmarsch wurde er erst in Bergen-Belsen befreit. Diese traumatischen Erfahrungen verwandelte Galinski in eine kaum glaubliche Kraft. Zusammen mit seiner zweiten Frau Ruth widmete er seine weiteren Jahre dem Wiederaufbau jüdischen Lebens in Berlin. Von 1949 bis 1992 leitete er die dortige jüdische Gemeinde; in seiner letzten Lebenszeit verband er das mit dem Vorsitz im Zentralrat der Juden in Deutschland. Als ich 1994, bald nach Galinskis Tod, nach Berlin kam, war sofort zu hören und zu spüren, in welchem Maß und mit welcher Geradlinigkeit er die jüdische Präsenz im Westteil Berlins geprägt und zu einem unverzichtbaren Bestandteil einer neuen Bürgergesellschaft gemacht hatte. Bedenkt man, aus welcher Leidenserfahrung dieses Engagement geboren wurde, ist es nur umso bewundernswerter.
„Empört euch!“ Der Ruf erschallte spät. Auch er ist mit dem Konzentrationslager Dora verbunden. Stéphane Hessel ist das letzte Beispiel, das ich erwähnen will. Hessel war ein aus Deutschland stammender, französischer Staatsbürger, der während des Zweiten Weltkriegs der Exilregierung von Charles de Gaulle in London gedient hatte. Sie hatte ihn nach Paris geschickt, wo er der Gestapo in die Hände fiel, die ihn als Résistance-Kämpfer nach Buchenwald deportierte. Nur durch einen höchst riskanten Identitätstausch mit einem Typhustoten entging er dem Strang. Verwegen war auch die Flucht mit einem Kameraden, durch die er im Lager Dora landete, das im Vergleich mit Buchenwald als noch schlimmer galt. All das überlebte er und beschloss, sein Leben in den Dienst der Menschenrechte zu stellen. Dafür trat er in den diplomatischen Dienst seines Landes ein, das ihn zu den Vereinten Nationen delegierte. Dort beteiligte er sich an den Vorarbeiten für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948. Sie wurde zu seinem politischen Credo.
Empört euch gegen Hass, Verachtung und Barbarei
Das war der Hintergrund, vor dem auch der Appell zu lesen ist, mit dem Hessel im Jahr 2010 an die Öffentlichkeit trat: „Empört euch!“ Das Wort von der Empörung, das Hessels schmaler Schrift den Titel gab, stammte aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. In deren Präambel heißt es, dass „die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen.“ Nicht um die Empörung von Wutbürgern ging es also in Stéphane Hessels Appell, sondern um die Empörung des menschlichen Gewissens angesichts von barbarischen Akten, die aus der Nichtanerkennung der Menschenrechte, aus einer Gesinnung von Hass und Verachtung entspringen.
Diese Empörung des menschlichen Gewissens um der menschlichen Würde willen ist eine Grundhaltung, die heutzutage vielerorts so brüchig geworden ist, dass manche schon fragen, ob die Zeit der Menschenrechte vorbei sei. Gegen eine solche Resignation bleibt festzuhalten: Diese Empörung ist eine Tugend, die wieder an Kraft gewinnen muss. Möge die Zahl der Menschen wachsen, die sich zusammentun, um der Verletzung von elementaren Menschenrechten frühzeitig und, wo immer es geht, mit Erfolg entgegenzutreten. Die „Hölle von Dora“ verpflichtet uns dazu – und sie nicht allein.
(Die Zwischentitel stammen von der Redaktion.)