Erinnerungsworte zum 1. September 2019
Ebenso wie in Deutschland das Eintreten für das Existenzrecht des Staates Israel eine grundlegende Verpflichtung ist, gehört auch das aktive Eintreten für eine gute politische Zukunft des polnischen Staates und für das Wohlergehen seiner Bürgerinnen und Bürger zu den politischen Grundpflichten unseres Landes.
Erinnerungsworte zum 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs, gesprochen von Wolfgang Huber am 31. August 2019 in der Nikolaikirche Potsdam:
Fake news stehen am Anfang des Zweiten Weltkrieg. „Großmutter gestorben“ hieß das Codewort für die Attacken auf einen Radiosender in Gleiwitz und parallele Attacken auf deutschem Grenzgebiet, die als Grund für den deutschen Angriff auf Polen ausgegeben wurden. Diese Attacken wurden von deutschen SS-Männern ausgeführt, die als polnische Soldaten verkleidet waren. Die deutsche Bevölkerung sollte dadurch in die Irre geführt werden; man wollte sie glauben machen, die Kampfhandlungen seien von der polnischen Seite ausgegangen. „Ab 5:45 wird zurückgeschossen.“ Nicht nur die Uhrzeit war falsch; das „zurück“ war eine dreiste Lüge, die Hitler einigen Offizieren schon eine Woche zuvor angekündigt hatte. Er werde, so sagte er, einen propagandistischen Anlass für den Krieg vortäuschen, gleichgültig, ob dieser glaubhaft sei oder nicht. Und dann wörtlich: „Der Sieger wird später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht.“
Der Diktator äußert damit seine Verblendung in einem Satz: Die überhebliche Annahme, der Krieg werde mit einem deutschen Sieg – also mit der deutschen Herrschaft über Europa – enden, verband sich mit dem anmaßenden Anspruch, über der Wahrheit und damit zugleich über aller Moral zu stehen: „Der Sieger wird später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht.“ Wer dieses Beispiel kennt, wird in fake news niemals ein Kavaliersdelikt sehen können. Wer die Wahrheit verachtet, verachtet auch die Menschen.
Dieser Lüge vom 1. September war eine Woche zuvor die Lüge vom 23. bzw. 24. August vorausgegangen. Im deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt – nach den Protagonisten auch Hitler-Stalin- oder Ribbentrop-Molotow-Pakt genannt – verpflichteten sich die beiden Staaten für zehn Jahre darauf, auf militärische Angriffshandlungen zu verzichten. Nie hatte Hitler die Absicht, den Pakt einzuhalten; denn stets dachte er über Polen hinaus, das er als Aufmarschgebiet für den Angriff auf die Sowjetunion nutzen wollte. Seine vertragliche Selbstverpflichtung war von vornherein hohl; sie hielt auch keine zwei Jahre. Mit dem „Unternehmen Barbarossa“ brach Hitler den Nichtangriffspakt mitsamt seinen Begleit- und Anschlussverträgen. Doch von allergrößter Wirkung blieb die Vereinbarung, dass Ostpolen und die baltischen Staaten zur Einflusssphäre der Sowjetunion gehören sollten.
Die dadurch ausgelöste Verschiebung der polnischen Ostgrenze und die damit verbundene Umsiedlung von Polinnen und Polen nach Westen ist noch für Nachgeborene eine schmerzliche Erinnerung. Und das bleibende Gefühl von Unsicherheit in Estland, Lettland und Litauen hat ebenfalls mit der Lüge des 23. August 1939 zu tun. Marie-Luise Beck hat den Hitler-Stalin-Pakt deshalb als die größte Bombe des Zweiten Weltkriegs bezeichnet.
Zum ersten Mal in der Geschichte wurden durch den Zweiten Weltkrieg mehr Zivilisten als Soldaten ums Leben gebracht. Die Hälfte der 50 Millionen Kriegsopfer waren Bürgerinnen und Bürger der Sowjetunion. Auf sechs Millionen wird die Zahl der Polinnen und Polen geschätzt, die durch den Zweiten Weltkrieg ums Leben kamen, darunter drei Millionen Jüdinnen und Juden.
Während sich in Polen gegenwärtig die Erinnerung an das geschichtliche Unrecht, dem die eigenen Vorfahren zum Opfer fielen, in der Forderung nach Reparationen Ausdruck verschafft, wird in Deutschland darüber nachgedacht, ein Denkmal für die Opfer der NS-Besatzung in Polen zu errichten. Gewiss kann das eine kein Ersatz für das andere sein. Die Unmöglichkeit einer Wiedergutmachung für millionenfachen Mord beschäftigt uns in Deutschland immer wieder. Doch unabhängig von den grundsätzlichen wie politisch-pragmatischen Schwierigkeiten der Forderung nach Reparationen ist festzuhalten: Ebenso wie in Deutschland das Eintreten für das Existenzrecht des Staates Israel eine grundlegende Verpflichtung ist, gehört auch das aktive Eintreten für eine gute politische Zukunft des polnischen Staates und für das Wohlergehen seiner Bürgerinnen und Bürger zu den politischen Grundpflichten unseres Landes.
Denkmäler, die einzelnen Opfergruppen gewidmet sind, dürfen genauso wenig wie Wünsche nach Wiedergutmachung im Sinn einer Abgrenzung gegenüber anderen Opfergruppen verstanden werden. Auch in dieser Hinsicht gilt, dass wir neuem Nationalismus und mit ihm allzu oft verbundenem Antisemitismus keinen Raum geben dürfen. Dort, wo solche Haltungen sich ausbreiten, müssen wir ihnen überzeugt und überzeugend entgegentreten. Das gilt vor wie nach dem 1. September 2019, dem Gedenktag ebenso wie dem Wahltag. Gerade in der Erinnerung an die finsteren Seiten seiner Geschichte brauchen wir ein Land aufrechter Demokraten und eine Demokratie, die wir auch nach innen zu verteidigen bereit sind.
Noch während des Zweiten Weltkriegs haben weitsichtige Personen die Aufgabe erkannt, Bedingungen für einen gerechten und dauerhaften Frieden zu schaffen. Für nahezu ein halbes Jahrhundert wurde diese Einsicht durch den Ost-West-Konflikt überdeckt, der eine durchaus lebensgefährliche Folge des Zweiten Weltkriegs darstellte. Die Chance, der Arbeit für einen gerechten und dauerhaften Frieden Raum zu geben, erschloss sich vor dreißig Jahren mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs, mit der friedlichen Revolution in unserem und anderen Ländern, mit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Seitdem sind neue Konflikte entstanden; manche von ihnen gewinnen bedrohlich an Gewicht. Umso notwendiger ist es, dass wir an den Möglichkeiten festhalten, die vor dreißig Jahren durch den Mut weitsichtiger Politiker wie durch die Unerschrockenheit widerständiger Bürgerinnen und Bürger geschaffen wurden. Ihnen gebührt nach wie vor unser aufrichtiger Dank.
Dabei können wir auch an frühere Entwicklungen anknüpfen, die sich exemplarisch im Verhältnis zwischen Polen und Deutschland gezeigt haben. Ungefähr ein halbes Jahrhundert ist es her, dass der Geist der Versöhnung in unseren Ländern zum Durchbruch kam. „Wir bitten um Versöhnung und gewähren Versöhnung“, schrieben die katholischen Bischöfe in Polen in einem wegweisenden Brief an ihre deutschen Mitbrüder im Bischofsamt. Und die Evangelische Kirche in Deutschland beschrieb bereits in ihrer epochemachenden Ostdenkschrift von 1965 die Bedingungen dafür, dass ein durch Versöhnung geprägtes und auf Frieden gerichtetes Miteinander unserer beiden Länder auf Dauer erreicht werden kann. Nicht territoriale Ansprüche, sondern die Bereitschaft zu einem friedlichen Zusammenleben sollten schon damals und müssen heute dieses Miteinander bestimmen. Willy Brandts Kniefall im Warschauer Ghetto am 7. Dezember 1970 wurde zum unvergesslichen Symbol für diese Bereitschaft.
Es ist deshalb richtig, dass wir heute die Erinnerung an den Beginn des Zweiten Weltkriegs begehen, indem wir der Missa pro pace des großen polnischen Komponisten Wojciech Kilar in einer polnisch-deutschen Aufführung lauschen. Der Komponist wurde 1932 in Lemberg, der damaligen polnischen Stadt Lwów und heutigen ukrainischen Stadt Lwiw geboren. In derselben Stadt waren zwei Juristen zu Hause, die aus der Gewaltgeschichte ihrer galizischen Heimat Konsequenzen zogen, wie sie in der neuzeitlichen Rechtsgeschichte einmalig sind. Philippe Sands hat ihnen in seinem Buch „Rückkehr nach Lemberg“ ein großartiges Denkmal gesetzt. Hersch Lauterbach – so der Name des einen – zog aus den Erfahrungen seiner Lebensgeschichte die Folgerung, dass es notwendig sei, Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die internationale Rechtsgemeinschaft zu ahnden, in Respekt vor den Opfern wie um der Verhütung vergleichbarer Taten in der Zukunft willen. Erst seit kurzem hat der Internationale Strafgerichtshof jedenfalls ansatzweise die Autorität gewonnen, die für solche Verfahren notwendig ist. Raphael Lemkin – so der Name des anderen – war der erste, der dem wichtigsten dieser Verbrechen einen unzweideutigen Namen gab – den Namen des Genozids. Bevor die Vereinten Nationen es wagten, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu verkünden, nahmen sie – einen Tag zuvor, am 9. Dezember 1948 – das Übereinkommen zur Verhütung und Bestrafung des Völkermords an. Zwei galizische Juden, die dem nationalsozialistischen Gewaltregime in ihrer Heimat mit Müh und Not entkommen waren, schufen die Voraussetzungen für ein Völkerrecht, von dem wir auch heute hoffen müssen, es möge auf seine Weise dazu beitragen, dass sich Vergleichbares nicht wiederholt. Doch noch wichtiger als solche Instrumente ist die Bereitschaft von Bürgerinnen und Bürgern in allen Ländern, dem Rechtsbruch und der Gewalt, der Intoleranz und der Lüge entgegenzutreten und so zu dem beizutragen, wonach wir uns alle sehnen: gerechtem und dauerhaftem Frieden. Deswegen hören wir nun auf die Missa pro pace von Wojciech Kilar, die mit der Bitte schließt: Dona nobis pacem.