Was lernen wir aus dieser Krise?

Wolfgang Huber hofft, dass nach der Corona-Krise mehr Demut in unsere Kultur einzieht.

"Mit großem Einsatz setzen wir uns für die Bewahrung des Lebens ein; das wird uns trotz aller zu betrauernden Todesfälle im Bewusstsein halten, wie kostbar das Leben ist“, sagte er dem Magazin Frankfurter Allgemeine Woche vom 9. April 2020.

Das Interview im Wortlaut:

"Ostern fällt nicht aus"

Warum es wichtig ist, Feste zu feiern, wie sie fallen: Ein Gespräch mit dem Theologen Wolfgang Huber über einmalige Andachten und die Pflichten der Kirche in schwierigen Zeiten

Herr Bischof Huber, wo begehen Sie Ostern?

Meine Frau und ich feiern Ostern allein in Brandenburg, wo wir uns schon seit Beginn der Corona-Krise aufhalten. Alle Termine sind ja ausgefallen, und mit unseren Enkelkindern können wir zurzeit nicht zusammen sein.

Können Christen in dieser Krise fröhlich Halleluja singen?

Das geht nur, wenn man das Osterfest nicht verniedlicht, sondern die Schritte, die auf dieses Fest hinführen, genauso ernst nimmt wie Ostern selbst. Denn es geht um einen Weg durch das Leiden und durch den Tod hindurch. Dann gibt es noch die Zäsur des Karsamstags, von dem die alte christliche Tradition sagt, dass Christus an diesem Tag in die Tiefe des Todes hinabgestiegen ist und sich mit den schon längst Verstorbenen identifiziert hat. Das alles klingt ja mit, wenn wir darauf vertrauen, dass der Tod nicht das letzte Wort hat.

Ostern fällt also nicht aus in diesem Jahr?

Nein, überhaupt nicht. Ich habe noch selten so viel Grund gehabt, mich intensiv auf das Osterfest vorzubereiten. Es stellen sich viele Fragen. Wie verstehen wir Ostern gerade im Jahr 2020? Die Kirchen sind zwar an vielen Orten offen, aber nicht dafür, dass man miteinander Gottesdienst feiern und Gemeinschaft erleben kann, sondern dafür, dass man einzeln hineingeht und eine Zeit der Stille und der Einkehr hat. Aber die Gottesdienste werden nicht abgesagt, sondern in einer anderen Weise gefeiert und mit großer Intensität vorbereitet. Ich werde zum Beispiel an einer Osterandacht mitwirken, die man sich zu Hause ansehen kann.

Warum ist es so wichtig, die Gottesdienste trotz allem zu feiern?

Wir erfahren gegenwärtig, wie verletzlich menschliches Leben ist. Und uns wird bewusst, dass wir nicht über die Zukunft verfügen. Auch wenn wir für sie planen, haben wir sie doch nicht in der Hand. Wir akzeptieren das in Demut. Aber wir geben uns nicht der Mutlosigkeit hin, sondern vertrauen auf Gottes Güte. Das ist das große Thema und die tiefe Erfahrung unserer Gottesdienste. Auch in den ungewöhnlichen Formen, in denen wir sie an Ostern 2020 feiern.

Welche Funktion erfüllen Feste wie Ostern für Gemeinschaften?

Im Normalfall sind Feste dadurch wichtig, dass man tatsächlich zusammen ist, im selben Raum das Fest gemeinsam begeht und dafür auch bestimmte Riten hat. Am Osterfest ist das besonders ausgeprägt. Deshalb wird uns der Wunsch, körperlich beisammen zu sein, gerade in diesem Jahr besonders bewusst. Und wir hoffen, dass die Unmöglichkeit, so zu feiern, eine einmalige Erfahrung ist. Umso wichtiger ist es, dass wir andere Formen der Verbundenheit finden.

Was kann die Kirche gerade leisten, damit der Einzelne nicht vereinsamt?

Sie muss insbesondere darauf beharren, dass Einsame und Sterbenskranke besucht und seelsorgerlich begleitet werden können. Und sie muss diesen Dienst der Barmherzigkeit leisten, wo immer sie kann. Mir liegt sehr daran, dass die Behutsamkeit und die Rücksichtnahme im Umgang mit schwerkranken Sterbenden und ihren Angehörigen in dieser Zeit ernst genommen wird. Ich bin traurig darüber, dass zu oft mit Rigorosität Angehörigen der Zugang zu ihren Nächsten verweigert wird, und möchte eindringlich appellieren, dass die Barmherzigkeit gegenüber Sterbenden und ihren Angehörigen geachtet wird.

In der Ostererzählung im Johannesevangelium wird von Jesus berichtet, der Maria Magdalena nach der Auferstehung am Grab begegnet. Sie hält ihn zunächst für den Gärtner. Als sie versteht, dass Jesus vor ihr steht, sagt der: Rühre mich nicht an. Das klingt nach "Social Distancing".

Diese Distanz ist kein "Social Distancing". Jesus geht auf Abstand, weil Maria Magdalena davon überfordert wäre, wahrzunehmen, wie anders sein Körper als Körper des Auferstandenen ist.

Wenn es kein "Social Distancing" ist, was dann?

Jesus lässt Maria Magdalena Zeit, das neue Leben zu erfassen. Den Ausdruck "Social Distancing" oder "Sozialer Abstand" halte ich nicht nur im Blick auf Jesus, sondern auch im Blick auf unsere Situation für verkehrt. Leider haben wir diese Redeweise übernommen, ohne darüber nachzudenken, wie irreführend sie ist. Sie ist im Zusammenhang der Probleme, die uns gegenwärtig bewegen, genauso abwegig wie der Ausdruck der "Herdenimmunität" aus der Tiermedizin. Wir gehen nicht auf soziale Distanz, sondern wir halten körperlich Abstand aus wechselseitiger Rücksichtnahme, und das heißt aus wechselseitiger Nähe.

Das führt auch dazu, dass Trauerfeiern in großer Gesellschaft nicht stattfinden können.

Die Beschränkung von Trauerfeiern auf zehn Menschen ist eine sehr schmerzliche Erfahrung für die Trauernden. Wenn das strikt durchgehalten wird, können oft nicht einmal die engsten Angehörigen teilnehmen.

Wozu raten Sie?

Wir sollten den Trauergottesdienst als Teil des Trauerprozesses verstehen. Wir müssen zusätzliche Gelegenheiten schaffen, damit Menschen mit ihrer Trauer nicht allein bleiben. Die Verabredung, sich zum Jahrestag des Todes im größeren Kreis zu treffen, kann in diesem Zusammenhang eine Hilfe sein.

Was lernen wir aus dieser Krise?

Mit großem Einsatz setzen wir uns für die Bewahrung des Lebens ein; das wird uns trotz aller zu betrauernden Todesfälle im Bewusstsein halten, wie kostbar das Leben ist. Wir lernen aber zugleich, dass unser Leben endlich ist. Phantasien über einen Transhumanismus, der die Endlichkeit überwindet, sollten wir hinter uns lassen. Wir dürfen ferner die Menschen in den Armutsregionen der Erde nicht aus dem Blick lassen, die von der Pandemie noch viel härter getroffen werden als wir. Deshalb hoffe ich, dass nach dieser Krise mehr Demut in unsere Kultur einzieht.

Gibt es ein Ritual an Ostern, das Ihnen besonders nahe geht?

Ich verbinde sehr dichte Erfahrungen mit der Feier der Osternacht. Zum Beispiel in Indien, wo es Brauch ist, in der Nacht auf den Friedhof zu ziehen. Die Gemeinde singt das Morgengrauen herbei. Als ich das in einer nordindischen evangelischen Gemeinde erlebte, brachen mit dem "Christ ist erstanden" die ersten Sonnenstrahlen durch, und die Gräber lagen plötzlich im Licht der Sonne.

Die Fragen stellte Tobias Schrörs.

Frankfurter Allgemeine Woche vom 09.04.2020, Seite: 20. Ressort: Titelthema