Die Balance der Werte gerät ins Wanken

Wolfgang Huber verurteilt die Gewalt bei den Demonstrationen der "Blockupy"-Bewegung gegen die Europäische Zentralbank in Frankfurt.

Wichtige Inhalte, um die es gehen muss, werden dadurch überdeckt, sagte der Theologe dem "Handelsblatt" (19. März 2015). Nötig wäre stattdessen eine Debatte über die "Gesellschaft 2030".

Das Interview im Wortlaut:

Herr Huber, Gewalt, Randale - kehren die Zeiten der außerparlamentarischen Opposition (Apo) zurück?

Die Gewaltsamkeit der Demonstration muss man scharf verurteilen. Sie lässt sich auch nicht mit der Apo der späten 1960er-Jahre vergleichen. Die Demonstranten kommen von weither angereist und wenden an anderen Stellen erprobte Demonstrationsstrategien an. Wichtige Inhalte, um die es gehen muss, werden dadurch überdeckt.

Nach den Banken nimmt sich das kapitalismuskritische Bündnis Blockupy die EZB wegen ihrer Griechenland-Politik vor. Ist die Rettungspolitik der EZB zu abgehoben und wird nicht mehr verstanden?

Die Demonstranten kritisieren die Austeritätspolitik, weil sie Armut verschärft. Der Versuch der EZB, die südeuropäischen Länder durch den Aufkauf von Staatsanleihen zu entlasten, folgt jedoch gar nicht dem Muster einer strikten Reformpolitik. Sie könnte eher den Druck in dieser Richtung vermindern. Deshalb gibt es einen Konflikt zwischen der EZB und der Bundesbank.

Und man muss tatsächlich bedenken: Ohne eine belastbare und zukunftsfähige Wirtschaftspolitik lässt sich Armut nicht überwinden. Auch für wohlmeinende Beobachter sind die geld- und wirtschaftspolitischen Ziele oft unklar und die eingesetzten Mittel fragwürdig; für eine fundamentalistische Kritik ist diese Unübersichtlichkeit ein willkommener Ansatzpunkt. Vertrauen bildet sich so nicht. Diese Vertrauenslücke halte ich für das zentrale Problem.

Glaubt unsere Gesellschaft nicht mehr an Werte wie Partnerschaft und Integrität, aber auch an die Eigenverantwortung?

Eine "Gesellschaft" glaubt nichts. Es kommt auf die Bürgerinnen und Bürger an. Vor allem kommt es darauf an, ob die Eliten in Politik, Wirtschaft und Kultur selbst zu den zentralen Werten stehen, die den Zusammenhalt und die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft verbürgen sollen. Unter diesen Werten
wurde in der letzten Zeit vor allem die "Eigenverantwortung" hochgehalten; sie wurde zu oft mit bloßem Egoismus gleichgesetzt. Nach der deutschen Verfassung sind die höchsten Werte die gleiche Würde jedes Menschen und der verantwortliche Gebrauch der individuellen Freiheit. Dann aber sind Solidarität und Gerechtigkeit genauso wichtig wie Eigenverantwortung. Die Balance zwischen diesen Werten ist ins Wanken geraten.

Haben Politik, Notenbanken, Finanzindustrie und die Kritiker es verlernt, mit Worten um den besten Weg zu ringen?

Um den öffentlichen Diskurs in diesen Fragen ist es schlecht bestellt. Die Frage nach der Zukunftsfähigkeit unserer wirtschaftlichen und damit auch unserer politischen Ordnung wird nicht zureichend diskutiert. Kritik, manchmal auch unfaire, und Demonstrationen, manchmal leider mit gewaltsamen Mitteln, stoßen in dieses Vakuum. Nötig wäre stattdessen eine Debatte über die "Gesellschaft 2030".

Was muss sich ändern, damit wir stärker zu einem Miteinander kommen, oder ist es schon zu spät?

Wir feiern in diesem Jahr 25 Jahre deutsche Einheit. Noch kurz zuvor hatte kaum jemand mehr an die Möglichkeit einer Wiedervereinigung geglaubt. Man meinte, der Zug sei schon abgefahren. Aus Hoffnung nachdenken und handeln ist die bessere Devise, als aus Kleinmut zu jammern - und damit den Dingen ihren Lauf zu lassen.

Die Fragen stellte Robert Landgraf.