Wie sich der Zölibat umgehen lässt
Nicht ohne den Versuch einer tiefgehenden theologischen Begründung: Thomas Ruster wirbt in einem aktuellen Buch für ein neues Verständnis des kirchlichen Amts.
Wolfgang Huber rezensiert Balance of Powers. Für eine neue Gestalt des kirchlichen Amtes von Thomas Ruster, erschienen 2019 im Verlag Friedrich Pustet, Regensburg:
Die christlichen Kirchen sind in hohem Maß reformbedürftig. Das zeigt sich in den verschiedenen Konfessionskirchen auf unterschiedliche Weise; aber es gilt für sie alle. In der jüngeren Entwicklung der römisch-katholischen Kirche gab es seit den 1960er Jahren keine Phase vergleichbar intensiver Reformdiskussionen wie gegenwärtig. Die Impulse des II. Vatikanischen Konzils wurden in Deutschland seinerzeit durch die Würzburger Synode (1970-1975) aufgenommen; viele ihrer Anregungen blieben allerdings ohne die erhoffte Wirkung. Synodal soll auch der Weg sein, den die katholische Kirche heute einschlagen will. Das Verhältnis zwischen der Kirche als Volk Gottes und dem kirchlichen Amt rückt ins Zentrum. Der dramatische Priestermangel macht den Reformbedarf offenkundig.
Der synodale Weg, den die katholische Kirche einschlägt, verdient uneingeschränkte ökumenische Aufmerksamkeit. Auch Versuche, anstehende Reformen theologisch zu begründen, verdienen Beachtung. Dies gilt erst recht, wenn ein Reformvorschlag in ökumenischem Austausch vorbereitet wurde und um ökumenische Anschlussfähigkeit bemüht ist. Das alles trifft für die Überlegungen des Dortmunder katholischen Theologen Thomas Ruster in hohem Maß zu. Er sieht neue Strukturen des kirchlichen Amts als den Schlüssel zu dem heute notwendigen Wandel an. Den Ausgangspunkt bildet die Überzeugung, dass alle Christen an dem prophetischen, priesterlichen und königlichen Amt teilhaben, das der Kirche als ganzer anvertraut ist. Die Folgerung heißt, dass die mit dieser alten Terminologie beschriebenen Aufgaben des Lehrens, des Heiligens und des Leitens nicht notwendigerweise in der einen Person des Priesters vereinigt sein müssen. Vielmehr können – und sollen nach der Überzeugung des Autors – diese Ämter von verschiedenen Personen übernommen werden. Die Übertragung dieser Aufgaben ist nicht nur auf Dauer, sondern auch auf Zeit möglich. In allen drei Fällen erfolgt die Beauftragung durch den Bischof.
Natürlich überschneiden sich die genannten Aufgaben. Dennoch lässt sich differenzieren zwischen denen, die sich vor allem um Verkündigung und Unterweisung kümmern, anderen, die für die Sakramente, das Beten und das Segnen zuständig sind, und schließlich denen, die sich um den Zusammenhalt der Gemeinde, die Lösung von Konflikten und die Vertretung nach außen kümmern. Auffällig ist, dass in dieser Dreiteilung die Seelsorge nicht ausdrücklich genannt wird; vermutlich wird der Autor sie dem Bereich priesterlicher Verantwortung zuordnen.
Dass Ruster die Idee eines differenzierten Amts in die heute eher befremdlich wirkenden Bezeichnungen von Prophet, Priester und König kleidet, erklärt sich aus der Suche nach einer theologisch plausiblen Begründung. Er meint, eine Rechtfertigung seines Vorgehens in der theologischen Lehre von den drei Ämtern Christi finden zu können. Für die Entfaltung dieser Begründung nimmt er manche Umwege in Kauf und spart nicht mit Exkursen – ohne sie freilich so zu bezeichnen.
Die Lehre vom dreifachen Amt Christi weist auf das Alte Testament zurück. In ihm werden die Ämter des Propheten, des Priesters und des Königs in die religiös-soziale Grundstruktur Israels eingezeichnet. Dass sie sich in einem außerordentlich spannungsreichen Verhältnis zueinander befinden, ja dass das Amt des Propheten gerade darin besteht, diese Spannung zu artikulieren, hebt der Autor nicht besonders hervor. Für ihn sind diese unterschiedlichen Rollen im alten Israel Vorläufer des dreifachen Amts Christi. Er verschweigt nicht, dass man im Neuen Testament noch keine stringente Übertragung dieser drei Ämter auf die eine Person Jesus Christus finden kann. Probleme bietet natürlich besonders die Bezeichnung Jesu als König. Das Johannes-Evangelium setzt dieser Bezeichnung entgegen, Jesu Reich sei nicht von dieser Welt und sein Auftrag bestehe darin, die Wahrheit zu bezeugen. Wahrheit und Macht werden also einander entgegengesetzt. Die Offenbarung des Johannes überbietet den Königstitel auf andere Weise; sie bezeichnet Jesus nämlich als Herrscher über die Könige. Wenn man, wie es lange üblich war, von der "Königsherrschaft" Christi spricht, kann damit also nicht die Herrschaft als König, sondern nur die Herrschaft über die Könige gemeint sein.
Der Autor erörtert solche Einwände nicht. Stattdessen verfolgt er die verschlungenen Wege, auf denen die Idee des dreifachen Amts sich in der Geschichte der christlichen Theologie verfestigt. In die Neuzeit wäre sie nach Rusters Auffassung ohne die Reformation nicht vorgedrungen. Der Reformator Johannes Calvin erwarb sich um diese neuzeitliche Aneignung einer alten theologischen Denkfigur besondere Verdienste; kein Wunder, dass keiner die Drei-Ämter-Lehre im zwanzigsten Jahrhundert nachdrücklicher vertreten hat als der reformierte Schweizer Theologe Karl Barth.
Entscheidend für die reformerische Absicht des Autors ist die Frage, wie legitim die Übertragung der drei Ämter Christi auf die Kirche ist. Hier stößt er auf eine bisher nicht überwundene ökumenische Differenz. Denn soweit die evangelische Theologie die Lehre von den drei Ämtern benutzt, spricht sie diese Ämter allein Christus zu und überträgt sie nicht auf die Kirche. Ruster wendet ein, zum Wesen jeder Macht gehöre es, geteilt zu werden. Wenn die katholische Auffassung durch den Gedanken geprägt sei, dass Christus seine Macht mit der Kirche teilt, so liege gerade darin eine Modernisierung der
Ämterlehre. Strittig sei nur, ob die in Christus vereinigten Ämter auch in der Kirche in einer Person vereinigt sein müssten. In der Vorstellung vom Papst als Stellvertreter Christi ist dieser Gedanke einer einheitlichen Teilhabe der Kirche an den Ämtern Christi so eindeutig wie möglich vollzogen. Doch notwendig ist das nicht. Das behauptet Ruster jedenfalls im Blick auf Kirchengemeinden und vergleichbare kirchliche Handlungsfelder. Lehre, Liturgie und Leitung brauchen nicht in einer Hand zu liegen. Deshalb plädiert er für die Gleichordnung derer, denen diese Aufgaben übertragen werden. Damit erübrigt sich die mit dem Messopfer verbundene umfassende Vollmacht, die dem klassischen katholischen Priesterbild zugrunde liegt.
Nachdem Ruster die Möglichkeit dieser Veränderung sorgfältig dargelegt hat, braucht er nur noch beiläufig darauf hinzuweisen, dass damit die Bindung des Priesteramts an den Zölibat und dessen Beschränkung auf Männer hinfällig wird.
Allerdings endet die "balance of powers", für die der Autor wirbt, auf der Ebene der Gemeinde. Im Blick auf das Bischofsamt erklärt er ausdrücklich, es könne unverändert fortbestehen. Die Einsetzung in die differenzierten Ämter wie die Abberufung aus ihnen liegt ausschließlich in bischöflicher Hand. Im Blick auf das Papstamt wird Vergleichbares nicht ausdrücklich erklärt, aber vorausgesetzt. Die „balance of powers" gilt horizontal auf der Ebene der kirchlichen Handlungsfelder; so kühn, sie auch für die vertikale Struktur der Kirche zu fordern, ist Thomas Ruster nicht.
Die Besprechung wurde am 11. Dezember 2019 in Frankfurt am Main veröffentlicht.