Was uns wichtig ist

Landauf landab wird gefragt, wie wir angesichts des Terrors von Paris "unsere Werte" verteidigen. Welche Werte sind gemeint?

Beitrag von Wolfgang Huber in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 22.11.2015:

In einer Fernsehsendung sollte eine Bildsequenz verdeutlichen, worum es geht: ausgelassenes Feiern, ein abendliches Getränk im Straßencafé, das Recht, sich so zu kleiden und zu leben, wie man möchte, offene Gesichter und offene Haare, Toleranz für unterschiedliche Lebensformen, Gleichberechtigung von Frauen und Männern.

Das war das Leben, in das am 13. November in Paris hineingeschossen wurde. Diese Art zu leben sollte verwüstet werden. Die beispielhaft gezeigten Bilder holten die so oft beschworenen "Werte" auf den Boden von Paris, zeigten die Lebensfreude, die so jäh abbrach wie das Rock-Konzert, das im Bekennerschreiben des IS als eine "perverse Feier" bezeichnet wurde. Die Reaktion war nachvollziehbar: Wir lassen uns nicht einschüchtern, wir feiern weiter. Auch Großveranstaltungen finden weiterhin statt, Fußball-Länderspiele eingeschlossen. Das Länderspiel in Hannover allerdings fiel aus.
    
Mit allem Nachdruck ist Terroristen das Recht dazu abzusprechen, gegen "unsere Art zu leben" Krieg zu führen. Aber es kommt ihnen nicht das Recht zu, die Fragestellung zu diktieren. Worum es geht, müssen wir selbst bestimmen. Es geht um mehr als um unseren Lebensstil. Es geht um die Freiheit, ein eigenes Leben zu führen, selbständige Entscheidungen zu treffen, ein eigener Mensch zu sein.
    
Deshalb ist der Protest dagegen auch nicht einfach eine Angelegenheit des Westens. Die Freiheit wird auch andernorts bedroht. 224 Menschen wurden Opfer des Terroranschlags auf eine russische Passagiermaschine über dem Sinai am 31. Oktober. Nach Tausenden zählt die Zahl der Terroropfer aus Syrien und dem Irak, die der IS auf dem Gewissen hat.
    
Auch im Nahen Osten ist Freiheit kein Fremdwort. Über zweitausend iranische Emigranten sind in der Nähe der irakischen Hauptstadt Bagdad in einem Lager untergebracht, das "Camp Liberty" genannt wird. Am 29. Oktober wurde auf dieses Lager ein heimtückischer Anschlag verübt, für den eine schiitische Terrormiliz die Verantwortung übernahm; 29 Menschen wurden getötet, über 80 wurden verletzt. Auf den Trümmern ihrer Behausungen demonstrierten die Überlebenden ihre Solidarität mit den Opfern von Paris. Beim Schutz von Leben und Freiheit geht es um mehr als um "westliche Werte".
    
Eine Zeitungsnotiz berichtet über arglose Beobachtungen im Großstadtverkehr. Eine junge Frau geht bei Rot über die Straße, eine Radfahrerin bremst noch rechtzeitig ab; nach einem Moment des Schreckens müssen beide lachen und ziehen weiter. Zwei Rollstuhlfahrer versuchen, die Bordsteinkante zu überwinden. Schließlich hilft eine ältere Frau ihnen; die Herren bedanken sich lächelnd. Eine ältere Frau hat sich mit ihrem Rollator in einer Haustür verkeilt; ein Mädchen löst das Problem und erntet freundlichen Dank. Hilfsbereitschaft dieser Art gehört zu unserer Lebensform. Auch in diesem Fall handelt es sich um mehr als um eine westliche Verhaltensweise. Forscher bestätigen sogar, dass die Empathie tief in der Entstehungsgeschichte der Menschheit verankert ist; wo sie verschwindet, wird das Leben schwer. Dass in einer kompetitiven Gesellschaft die Empathie Not leidet, ist einer der Gründe, deretwegen wir nur selbstkritisch darauf schauen können, wie der Westen mit den Werten umgeht, die er für die seinigen hält.
    
Die Fähigkeit zur Empathie ist kein Reservat einer Kultur. Obwohl sie tiefe Wurzeln in der Evolution der Menschheit hat, versteht sie sich nicht von selbst. Immer wieder muss sie ausdrücklich eingeschärft werden. In vielen Kulturen findet sich deshalb die "Goldene Regel", die dazu auffordert, andere so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte. Mit anstößiger Klarheit tritt das biblische Liebesgebot für solche Empathie ein, indem es fordert, sich sogar um den Feind zu sorgen und dem Fremden freundlich zu begegnen. Gerade in einer Welt, in der Vielfalt zu den Kennzeichen fast aller Gesellschaften gehört, erweist sich solche Empathie als notwendig. Es ist schwer zu ertragen, wenn jemand aus Empörung über den Terror in Paris  die Empathie gegenüber denen aufkündigt, die vor dem Terror in ihrer eigenen Heimat geflohen sind. Wer die eigenen Werte hochhalten will, muss sie konsequent anwenden.
    
Es greift zu kurz, wenn einfach nur der Lebensstil als das angesehen wird, was gegen terroristische Angriffe verteidigt werden muss. Eine solche Rechnung geht schon deshalb nicht auf, weil dieser Stil quer durch Europa höchst unterschiedlich ausgeprägt ist. Der Konflikt wird unterschätzt, wenn er nach dem Muster betrachtet wird, das der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington im Jahr 1996 vorgab, als er den "clash of civilisations" zur Struktur der Weltpolitik im 21. Jahrhundert erklärte. Es geht nicht nur um einen „Kampf der Kulturen“, wie die deutsche Übersetzung seines Buchs hieß. Es geht um den notwendigen Widerstand gegen Barbarei.
    
Die Einsicht, dass dieser Kampf sich nicht nur auf kulturell begrenzte Werte, sondern auf universale Normen stützen muss, wurde aus der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts geboren. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sah sich die Völkergemeinschaft dazu genötigt, einen Schutzschirm gegen die Barbarei aufzurichten, die das Zeitalter der Weltkriege bestimmt hatte. Vernichtungskriege, die nicht zwischen Kombattanten und Zivilisten unterschieden, der Völkermord am europäischen Judentum wie zuvor an den Armeniern, die Gewaltregime Hitlers und Stalins erforderten eine Antwort. Die Gemeinschaft der Vereinten Nationen wurde geschaffen; sie verpflichtete sich darauf, die Menschheit vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die Grundrechte der Menschen, die Würde und den Wert der menschlichen Persönlichkeit sowie die Gleichberechtigung von Männern und Frauen zu achten, Gerechtigkeit und sozialen Fortschritt zu fördern. Die Verurteilung jeder Art von Genozid stand genauso am Anfang dieses Projekts wie das Bekenntnis zur universalen Geltung der Menschenrechte. Schreckensereignisse, die zum großen Teil von Europa ausgegangen waren, gaben den Anlass dazu, die  Freiheit von Furcht und die Freiheit von Not zur gemeinsamen Verpflichtung der Menschheit zu erklären.
    
Gewiss ging nicht nur der Schrecken des 20. Jahrhunderts von Europa aus. Auch das Bewusstsein der Freiheit hat hier starke Wurzeln; es ist in den philosophischen Traditionen des Kontinents ebenso verankert wie in den Glaubensweisen von Juden und Christen. Aus guten Gründen wird die Achtung vor der gleichen Würde jedes Menschen aus dem Respekt der Aufklärung vor der Vernunftnatur des Menschen hergeleitet und mit dem biblischen Gedanken verknüpft, dass jeder Mensch zu Gottes Ebenbild geschaffen ist. Doch die Anerkennung universaler Menschenrechte führt über solche kulturellen Verwurzelungen hinaus. Sie war nicht eine Kopfgeburt, sondern die Antwort auf abgründige Erfahrungen. Dass diese Rechte eingefordert werden, ist das Resultat geschichtlicher Erschütterungen. Im Zeitalter der Weltkriege musste die weltweite Geltung dieser Rechte eingefordert werden. Im Zeitalter der Globalisierung muss sie erst recht Anerkennung finden.
    
Einsprüche gegen diese universalen Normen wurden immer wieder laut. Im Namen der „Asiatischen Werte“ wurde seit den neunziger Jahren geltend gemacht, die Menschenrechte missachteten die Bedeutung der Familie und anderer Gemeinschaftsformen. Doch es widerspräche dem Gedanken der Menschenrechte selbst, wollte man sie gegen Lebensformen ins Feld führen, die dem Zusammenleben der Menschen größere Beachtung schenken, als dies in den Single-Haushalten europäischer Großstädte der Fall ist. Heute wird die vermeintliche Überlegenheit des Islam dafür in Anspruch genommen, einen "heiligen Krieg" gegen den "dekadenten Westen" zu führen. Man darf sich jedoch der Vorstellung nicht beugen, es gehe hier nur um die Differenz kultureller Lebensformen. Es geht um das Existenzrecht von Tausenden, die im Nahen Osten Opfer des Dschihad werden, ebenso wie um den Schutz vor tötender Gewalt in Europa. Es geht um die Bewahrung des kulturellen Welterbes in Syrien und im Iran genauso wie um die Freiheit eines selbstbestimmten Lebens in Europa. Es geht um Normen, deren universale Geltung nicht zur Disposition gestellt werden darf. Auch nicht im Namen einer Religion.
    
Kein Zweifel: Auch im Namen einer Religion können barbarische Handlungen verübt werden; die Geschichte des Christentums weist dafür ein bedrückende Kette von Beispielen auf. Die Einsicht, dass diese dunkle Seite des Christentums mit dem Geist des christlichen Glaubens unvereinbar ist, hat sich nur gegen Widerstände durchgesetzt und ist noch keineswegs überall durchgedrungen. Noch immer sind keineswegs alle Christen bereit, sich am Liebesgebot, das auch den Fremden einschließt, oder an der Seligpreisung der Friedensstifter zu orientieren. Wenn die Gouverneure siebzehn amerikanischer Bundesstaaten die Aufnahme syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge verweigern und sich dafür auf prominente christliche Stimmen im eigenen Land berufen, scheint es mit der Einigkeit der Christen über die Nächstenliebe, die auch die Fremden einschließt, noch nicht weit genug gekommen zu sein. In der Auseinandersetzung mit der Barbarei unserer Tage besteht also zu christlicher Selbstgerechtigkeit oder zu einem westlichen Überlegenheitsgefühl kein Grund. An demütiger Selbstkritik vorbei können das Christentum oder der Westen kein geklärtes Verhältnis zur eigenen Identität und Kultur entwickeln. Navid Kermani hat uns das in seiner Friedenspreisrede eingeschärft. Ohne eine solche Bereitschaft zur Selbstkritik verliert der Einspruch gegen die Barbarei, die heute um sich greift, an Glaubwürdigkeit.
    
Es kann nicht darum gehen, „den Islam“ oder „die Muslime“ für den Terror verantwortlich zu machen. Man muss vielmehr darauf hoffen, dass Navid Kermanis Vorbild Schule macht: Einer, der die Schönheit des Koran entdeckt und die Tiefe der mystischen Tradition im Islam in sich aufgenommen hat, wehrt sich gegen den Missbrauch seiner Religion zur Rechtfertigung von Gewalt und stellt sich auf die Seite der Opfer.  Es wäre verfehlt, die Untaten des „Islamischen Staats“ im Ton der Selbstgerechtigkeit zu geißeln. Aber barbarische Untaten sind es und in keinem Sinn die Ausdrucksform einer „Zivilisation“ oder einer "Kultur".

Wer kann schon die Motive der Terroristen und ihrer Hintermänner kennen? Doch ein Motiv scheint deutlich zu sein. Die Polarisierung einer Gesellschaft treibt ihnen Anhänger zu. Vor allem junge Menschen, die sich abgehängt fühlen und vergeblich nach ihrem Platz in der Gesellschaft suchen, nehmen Zuflucht zu fundamentalistischen Ideologien unterschiedlicher Art; im schlimmsten Fall entwickeln sie die Bereitschaft zur Gewaltanwendung. Integration ist deshalb eine wichtige Antwort auf die Herausforderung des islamistischen Terrors. Bildungswege für junge Menschen, aus denen sich Zukunftschancen ergeben, sind so wichtig wie polizeiliche Sicherheitsvorkehrungen. Die Klarheit darüber, dass die Bejahung des demokratischen Rechtsstaats zu den Voraussetzungen dafür gehört, auf Dauer in Deutschland heimisch zu werden, ist unentbehrlich. Es wäre auch ein Selbstwiderspruch, wenn jemand in einem Land Zuflucht vor politischer Verfolgung und Bürgerkrieg sucht, aber der rechtsstaatlichen Ordnung dieses Landes die Anerkennung verweigert. Der Verfassungspatriotismus der Deutschen steht vor einer Bewährungsprobe. Diejenigen, die in unserem Land aufgenommen werden wollen, müssen für die Verfassung gewonnen werden, unter der wir auch weiterhin leben wollen. In dieser Hinsicht soll unser Land durch die Zuwanderung nicht anders werden, sondern bleiben, wie es ist. Dafür braucht es mutige Bürger und eine engagierte Zivilgesellschaft.

Freiheit und Empathie, das Eintreten für gleiche Menschenrechte und gegen den Missbrauch der Religion, Selbstkritik, Integrationsbereitschaft und Bürgermut - sogar der Schrecken kann uns zur Klarheit über die Werte verhelfen, die uns wichtig sind.

(Der Beitrag erschien in der FAS leicht gekürzt.)