Johann Gottfried Herder: Humanität schließt Pflichten gegenüber anderen ein

Die Bildung zur Humanität hat Johann Gottfried Herder zum Leitgedanken menschlicher Entwicklung erhoben.

Die großen Herausforderungen unserer Zeit erscheinen in einem besonders klaren Licht, wenn wir sie von diesem Leitgedanken aus betrachten.

Kurz nach der Französischen Revolution erwägt Herder, ob er statt von Humanität auch von Menschenrechten sprechen könne. Doch als Bildungsziel müssen nach seiner Auffassung Menschenrechte und Menschenpflichten zusammen genannt werden: «Beide beziehen sich aufeinander, und für beide suchen wir ein Wort.» Und dieses eine Wort heißt: Humanität.

Die Impfdebatte zeigt exemplarisch, dass für viele die Selbstbestimmung mehr wiegt als der Respekt vor dem anderen. Denn nur unter der Voraussetzung, es gehe allein um einen selbst, kann man sich in einer Situation der Pandemie von der Impfung als moralischer Pflicht lossagen.

Moralische Pflicht zur Corona-Impfung ist offenkundig

Wenn aus politischen Gründen von einer Rechtspflicht zur Corona-Impfung abgesehen wird, bedeutet dies keineswegs, dass damit die offenkundige moralische Pflicht zur Impfung ihre Geltung verliert. Sie hat nicht nur in der Selbstverantwortung ihren Grund. Sowohl gegenüber den Einzelnen wie gegenüber der Gesellschaft besteht eine solche Pflicht.

Beitrag in der Neuen Zürcher Zeitung vom 6. September 2021

Der Essay ist eine gekürzte Fassung der Festrede zum 277. Geburtstag Herders, gehalten am 25. August 2021 
in der Stadtkirche St. Peter und Paul zu Weimar