Das Gebet füreinander kennt keinen Lockdown

Für andere zu beten hilft, sich in die Schuhe des anderen zu stellen. Wenn ich für andere bete, prägt dies auch mein Verhältnis zu ihnen.

Reflexionen von Wolfgang Huber in der Welt am Sonntag vom Ostersonntag, dem 4. April 2021:

Wenn ich über das Beten nachdenke, kommt mir ein Abschnitt aus der Bergpredigt Jesu in den Sinn. Im Kern wird dort gesagt, man solle über das eigene Beten nicht viele Worte machen und sich nicht damit brüsten, sondern in sein "Kämmerlein" gehen und dort mit Gott reden. An diesen Abschnitt schließt sich das Vaterunser an. Es zeigt, mit wie wenigen Worten ein umfassendes Gebet möglich ist. Deshalb ist das Vaterunser für mich das wichtigste Gebet.

Die große Spannweite des Betens

Darüber hinaus umfasst Beten in meinem Verständnis die ganze Spannweite von der Meditation über Texte, dem wortlosen Innehalten an einem Grab, der persönlichen Zwiesprache mit Gott oder dem gemeinsamen Gebet mit der Gemeinde im Gottesdienst.

Das Gebet war bereits während meines Aufwachsens wichtig, das Beten zu Beginn des Mittagessens gehörte ebenso zum Tagesablauf wie das Abendgebet mit meiner Mutter. Obwohl sie mit fünf Söhnen und ihrem Beruf viel beschäftigt war, fand sie dafür immer Zeit. Später war ich ein engagierter evangelischer Pfadfinder. Wenn wir "auf Fahrt" waren, wie es hieß, hatten wir einen Tagesrhythmus, der von der Morgenandacht und dem Abendsegen gerahmt wurde. Ich lernte damals, die Losungen der Herrnhuter Brüdergemeinde zu nutzen, die für jeden Tag einen alttestamentlichen Satz auslost, ihm einen kurzen neutestamentlichen Text hinzufügt, der inhaltlich passt, und beide mit einer Liedstrophe oder einem Gebet verbindet. Das habe ich in mein späteres Leben übernommen; es prägt auch heute noch die gemeinsame Tagesstruktur mit meiner Frau. Das Losungsbuch liegt bei uns auf dem Frühstückstisch.

Das Gebet als gemeinschaftliche Erfahrung

Das gemeinsame Gebet im Gottesdienst hat für mich eine ganz eigene Kraft. Auf dessen Vorbereitung verwende ich viel Konzentration. Beim Gebet für die und mit der Gemeinde wende ich mich gern zum Altar. Früher habe ich darin eine katholische liturgische Haltung gesehen. Aber ich finde es auch für evangelische Pfarrerinnen und Pfarrer gut, wenn sie sich in eine Haltung begeben, in der sie nicht auf die Gemeinde "einbeten", sondern in derselben Richtung wie die Gemeinde auf den Altar, auf das Kreuz Jesu hin beten. Es geht beim gemeinsamen Beten auch um die Erfahrung der Gemeinschaft.

Wir beten niemals nur für uns

Das gilt auf besondere Weise für das Vaterunser. Es ist eine großartige Erfahrung zu wissen: Wenn ich das Gebet Jesu bete, kann ich sicher sein, dass rund um den Erdball viele Menschen das zum selben Zeitpunkt ebenso tun. Wir beten ja niemals nur für uns, ich sage nicht: "Mein Vater im Himmel", sondern: "Vater unser im Himmel". Und wenn mein Gebet schwach und zweifelnd ist, vertraue ich darauf, dass das Gebet anderer für mich eintritt.

Nicht nur die Form des Betens, sondern auch die Erwartung an das Gebet wandelt sich mit der Zeit. Man muss sich bewusst machen, dass Gebete anders erhört werden, als wir das selbst erwarten oder erhoffen. Niemand kann damit rechnen, dass das, was er im Gebet vor Gott bringt, eins zu eins erfüllt wird. Statt des einfachen Bittens: "Ich will, dass schönes Wetter ist, weil wir heute einen Ausflug geplant haben", sagt das Gebet eher: "Gib mir so viel Fantasie, dass ich mit dem Tag etwas anfange, auch wenn die Pläne nicht aufgehen." Diese Art des Betens muss in einem wachsen, und es gibt Situationen, in denen das näher, und andere, in denen es ferner liegt.

Bekommen wir beim Beten zu Gott eine Antwort?

Ich selbst empfinde es durchaus so, dass ich beim Beten zu Gott eine Antwort bekomme. Die verweist mich darauf, dass Situationen, die ich als ausweglos erlebe, sich öffnen, wenn ich zu dieser Offenheit bereit bin. In der gegenwärtigen, durch die Pandemie geprägten Zeit ist das besonders wichtig. Die Gegenwart des göttlichen Geistes ist es ja, die mir durch das Gebet erschlossen wird, und sie hilft mir, über die Ratlosigkeit hinauszukommen. Oder denjenigen, für die ich Trost und Zuversicht erbitte. Für andere zu beten hilft, sich in die Schuhe des anderen zu stellen. Wenn ich für andere bete, prägt dies auch mein Verhältnis zu ihnen. Eine solche Verbundenheit brauchen wir gerade in einer Zeit, die das Zusammenkommen schwer macht. Das Gebet füreinander kennt keinen Lockdown.

Aufgezeichnet von Jennifer Wilton

Die Zwischentitel stammen von der Redaktion dieser Webseite.

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