Die Karriere eines „Luther-Zitats“

Angeblich stammt der Satz von Martin Luther: „Nur wer sich entscheidet, existiert.“ Wolfgang Huber ist dem nachgegangen.

Neuer Dezisionismus
Von Wolfgang Huber

Auch nach dem Ende des Reformationsjubiläums hören die Überraschungen nicht auf. Ein Autokonzern lädt zu einer Chefkonferenz mit einem Luther-Zitat ein: „Nur wer sich entscheidet, existiert.“ Ein Satz des Reformators als Aufruf zu wirtschaftlichem Erfolg im Jahr 2018: das Reformationsjubiläum hinterlässt Spuren!

Leider ist es mir auch mit fremder Hilfe bisher nicht gelungen, den Satz bei Martin Luther zu finden. Die bisherigen Recherchen führen lediglich bis zum Jahr 2002 zurück, in dem das Wirtschaftsmagazin brand eins einen Schwerpunkt zum Thema „Entscheidung“ mit diesem Zitat eröffnet. Eher als Luther meint man allerdings den Staatsrechtler Carl Schmitt zu hören, der schon früh am Recht nicht das Gesetz, sondern das Urteil als entscheidend ansah und in anderem Zusammenhang erklärte: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Eine solche Vorstellung von Entscheidung sucht man bei Luther vergeblich. Bei ihm begegnet uns eine ganz andere Tonlage. So heißt es in seiner polemischen Schrift gegen Erasmus von Rotterdam „Vom unfreien Willen“: „So ist der menschliche Wille in die Mitte gestellt wie ein Zugtier. Wenn Gott sich darauf gesetzt hat, will er und geht, wohin Gott will. … Wenn Satan sich darauf gesetzt hat, will und geht er, wohin Satan will. Und es steht nicht in seiner freien Entscheidung, zu einem von beiden Reitern zu laufen oder ihn sich zu verschaffen zu suchen, sondern die Reiter selbst kämpfen miteinander, ihn zu erlangen und zu besitzen.“

Auch die Redaktion von brand eins konnte über die Herkunft des Zitats keine Auskunft geben. Sie teilte mit, man habe sich seinerzeit „auf verschiedene Einträge in Zitatensammlungen gestützt, ohne korrekterweise eine Primärquelle zu befragen“. Die Unterlagen der damaligen Recherche stünden leider nicht mehr zur Verfügung. Bedauerlicherweise sind mir Zitatensammlungen, in denen sich der Luther zugeschriebene Satz findet, nicht begegnet. Hinweise sind sehr willkommen.

Mit dem Jahr 2009 beginnt die große Karriere dieses Zitats, beispielsweise in Gemeindebriefen. Aber die Resonanz reicht weit darüber hinaus. Ein Nachruf auf den Firmenchef von Playmobil, Horst Brandstätter, endete 2015 mit der Berufung auf Luthers Ausspruch; zum Zeitpunkt seines Todes war der „Playmobil-Luther“ schon auf dem Markt. In einer baden-württembergischen „Abgeordnetenbibel“, in der ausdrücklich auch Luther-Zitate erwünscht waren, wählte Winfried Kretschmann sich den vermeintlichen Luther-Satz. Vielleicht wird er eines Tages so populär wie Luthers angeblicher Ausspruch über das Apfelbäumchen, der in den Jahren des Zweiten Weltkriegs entstand. Unverdrossen werden in Luthers Namen Apfelbäume gepflanzt; ebenso unverdrossen wird man in seinem Namen entscheiden.

Denn der Dezisionismus kehrt zurück. Wir müssen schneller entscheiden, als wir denken können. Digitalisierung, Genomeditierung, selbststeuernde Autos: Wer nicht entscheidet, existiert nicht. Doch auf Luther sollte man sich für solches Sachzwangdenken nicht berufen. Als Kommentar kann eher sein berühmter Satz dienen: „Woran Du Dein Herz hängst, das ist Dein Gott.“

Aus „Zeitzeichen - Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft“ (18. Dezember 2018)